Unfall


Noch vor Vincents inszeniertem Fahrradunfall hatte Traian sein nächstes Opfer ins Visier genommen: Mario Lehmburger, von Beruf Laborassistent sowie enger Mitarbeiter von Dr. med. Michael Klingberger. Mario ging einem für Traian langweiligen Tagesablauf nach, der sich auf Arbeiten gehen, fernsehen und schlafen, begrenzte. Als Traian an jenem Abend in der Stadt ankam, schien sein auserwähltes Opfer aber nicht zu Hause zu sein. Es brannte kein Licht in der Wohnung, auch kein Bildschirm flimmerte. Laut seinem Dienstplan hatte Mario frei. Sollte er etwa seine Gewohnheiten ändern? Das würde seinen Plan über den Haufen werfen, andererseits fühlte sich Traian flexibel genug, um eine Alternative zu schaffen. Er überlegte, wieder zu gehen, obwohl er noch nicht sehr lange gewartet hatte, als ein schwarzer BMW vor dem Haus in zweiter Spur den Verkehr behinderte. Ein silberner Ford hielt dahinter. Nach einer DHL - Lieferung sah das nicht gerade aus. Traian bemerkte, wie sich seine Augen weiteten.

Hinter dem Lenkrad des silbernen Wagens entdeckte Traian einen alten Bekannten, Ivor Jurischenkow. Zwischen Realität und vergangenen Bildern hin und her gerissen, bemühte sich Traian die weitere Person in dem Ford zu erfassen. Er kannte den Mann nicht. Der Kopf hing reglos an der Seitenscheibe, nur der Gurt schien den Mann auf dem Autositz zu halten.

War der Mann tot?

Jetzt stieg Mario aus dem BMW und ging auf fünf glatzköpfige Männer mit Springerstiefeln zu, die uniformähnliche Kleidung trugen. Nach Traians Erfahrungen nicht gerade die geeigneten Friedensboten. Offensichtlich waren sie hier verabredet. Um das Gespräch zu verstehen, war er zu weit entfernt. Nach einer gemütlichen Spazierfahrt sah das Ganze jedenfalls nicht aus. Traian schlich zwischen den parkenden Autos auf den Ford zu. Mario nickte Jurischenkow zu, worauf dieser aus dem Wagen stieg. Dafür setzte sich einer der Kahlgeschorenen hinter das Lenkrad, neben ihm der reglose Mann.

Jurischenkow hielt für den Moment die Autotür offen. »Er muss am Leben bleiben, dass das klar ist!« Mit diesen Worten warf er die Tür zu und der Ford fuhr mit quietschenden Reifen an dem vorderen Auto vorbei. Mario und Jurischenkow eilten zum BMW, um hinterher zu fahren. Traians Neugier war groß genug, um einen lautlosen Sprung auf das Autodach zu wagen. An den Fenstern der Autotüren des BMW konnte er sich bequem festhalten, denn der Fahrstil von Mario hätte ihn gnadenlos vom Dach geschleudert. Der Ford fuhr weiterhin voraus und verließ bald die stark befahrene Straße. Auf einer abgelegenen Landstraße bog er ab, Traians Mitfahrgelegenheit hinterher. Der Ford mit den beiden Unbekannten beschleunigte und raste auf eine steile Kurve zu, an der die Geschwindigkeit auf 50 km/h begrenzt war. Der Ford hatte aber mindesten 100 Sachen drauf. Nach einem Bremsmanöver kam der Wagen von der Fahrbahn ab, überschlug sich anschließend zweimal. Der BMW hielt kurz nach der Unfallstelle am Straßenrand. Traian rutschte über das Heck nach unten, behielt aber alles im Auge.

Der Kahlköpfige kletterte scheinbar unverletzt aus dem Unfallwagen, um zu Mario und Jurischenkow in das Auto zu steigen. Fluchend verließ Jurischenkow den Beifahrersitz.

»Wenn er tot ist, gibt es keinen einzigen Rubel. Ich habe doch gesagt, dass er am Leben belieben muss.« Er hockte sich neben dem Ford, der auf dem Dach liegengeblieben war, und zog den reglosen Mann hinaus auf die Wiese. Traian versuchte sich zusammenzureimen, welchen Sinn dieser offensichtlich inszenierte Unfall haben sollte. Es konnte eigentlich nur ein unzufriedener Patient von Jurischenkow sein, der ihn verklagen wollte. Das war wohl seine Art zu sagen, er möge die Klage zurückziehen. Traian versteckte sich hinter einem Gebüsch, wartete, bis der BMW mit Jurischenkow, Mario und mit dem Glatzkopf davon fuhr. Auch wenn er für Menschen nicht viel übrig hatte, aber der Mann aus dem Ford tat ihm fast ein wenig leid. Er lag ein Stück vom Auto entfernt im Gras, den Kopf seitlich weggedreht. Der entblößte Hals kam Traian wie eine Einladung vor. Sein Rachefeldzug hatte seine Gier nach Menschenblut erweckt. Doch dieser Fremde stand nicht auf seiner Liste. Er durfte, auch wenn es ihm in diesem Moment noch so schwerfiel, sein Blut nicht trinken. Traians Mund fühlte sich trocken an, er befeuchtete die Lippen und schluckte.

In der Ferne erklang ein Martinshorn. Zumindest könnte er das Blut aus den Wunden auflecken, das wäre etwas anderes, als durch einen Biss. Der durchdringende Klang der Sirene kam näher. Sollte Jurischenkow so viel Anstand besitzen und einen Rettungswagen gerufen haben? Traian zog sich ins Gebüsch zurück. Dann beobachtete er das Aufgebot an Krankenwagen, Polizei und Feuerwehr, die sich am Unfallort umsahen. Der bewusstlose Mann wurde zuerst medizinisch versorgt, anschließend mit dem Rettungswagen abtransportiert.


Helles Licht drang durch seine geschlossenen Augenlider. Mehrere Momente vergingen bis Sergiu seinen schmerzenden Körper wahrnahm und blinzelte.

»Hey, Buci. Ich dachte eigentlich, du bist geschickter im Autofahren, als ich.« Sergiu erkannte seinen Detektiv Maier vor sich. »Vielleicht magst du das nicht hören, aber du hast schon mal besser ausgesehen.«

In seinem Kopf dröhnte jedes Wort. »Was ...«, Sergius Mund fühlte sich pelzig an. »Was ist passiert?«

»Oh je! Ist es doch so ernst? Erkennst du mich wenigstens?« Maier runzelte die Stirn, dann rieb er sich über den Oberlippenbart.

»Wie könnte ich dich vergessen, mein alter Freund Maier.« Sergiu versuchte zu lächeln, aber ihm war nun wirklich nicht danach. Seine Nase schmerzte.

»Du hast dein Auto zu einem Haufen Schrott verarbeitet. Das hätte für dich viel schlimmer ausgehen können.«

Sein Auto? Richtig. Jemand war ihm am Montagnachmittag auf seinen Wagen gefahren. Ein Mann, etwa mittig dreißig, war aus dem aufgefahrenen Auto auf ihn zugekommen.

»Ich habe wohl nicht aufgepasst! Ist Ihnen etwas passiert? Haben Sie sich verletzt?«

»Alles in Ordnung«, hatte Sergiu noch geantwortet. Der Anblick der zermatschten Rückfront seines Autos war ihm ebenso im Gedächtnis geblieben, wie der überraschende Stich in seiner Gesäßhälfte. Hinter ihm stand plötzlich noch ein Mann, vielleicht Anfang fünfzig. Der hatte eigenartig gegrinst. Sergiu hatte ein Brennen an der Einstichstelle gespürt. An mehr konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern.

Mühevoll, jede Bewegung fiel ihm schwer, setzte er sich auf.

»Langsam, Buci.« Maier kehrte seine fürsorgliche Seite heraus.

Was hatten diese zwei Männer mit ihm angestellt? Vermutlich waren sie sogar in seine Wohnung eingedrungen. »Ich muss hier raus.« Seine rechte Schulter brannte, sein linkes Knie, überhaupt gab es kaum eine Stelle, die nicht weh tat. Er zog sich den Infusionsschlauch aus dem Arm.

»Buci! Das geht nicht. Sieh dich doch mal an.«

Manchmal kapierte Maier gar nichts. »Verdammt Maier, hilf mir! Glaubst du ernsthaft, ich fahre mein Auto zu Schrott?« Maier riss seine Augen auf.

»Du, du meinst ...«

»Verdammt noch mal, die haben mich auseinandergenommen und jetzt hilf mir endlich hier raus.« Beim Aufstehen begann sich seine Umwelt zu drehen, bis sie schwarz wurde. Er schluckte, versuchte dem Phänomen entgegen zu wirken. »Wasser, bitte.« Sein Magen fühlte sich an, wie ein Schwamm, mehr wie ein lebender Schwamm. Maier brachte ihm ein Glas Wasser, aber das half nicht wirklich. Sergiu fehlte die Kraft und vermutlich waren die Nachwirkungen von dem gespritzten Mittel nicht unschuldig an seinem schlechten Zustand.

»Pass auf«, er holte angestrengt Luft, »besorge mir einen Rollstuhl, damit schaffst du mich hier schleunigst raus.«

Maier blies seinen Atem aus. »Klar doch, nichts leichter als das.«

»Verdammt Maier, ich meine es ernst!« Sergiu setzte sich erschöpft auf die Bettkante. »Wenn ich hier nicht augenblicklich rauskomme, wird niemand deine Spesenrechnung bezahlen.«

»Bin schon unterwegs.« Maier eilte zur Tür hinaus. Sergiu verstand nicht, was diese fremden Männer mit ihm angestellt hatten und erst recht nicht, was sie eigentlich von ihm erwarteten. Zärtlich waren sie jedenfalls nicht mit ihm umgegangen. Sergiu grübelte, wer ihm hier an den Kragen wollte. Es fiel ihm nur eine einzige Möglichkeit ein und die hatte mit seinem alten Freund Victor sowie mit diesem USB-Stick zu tun.

Es war letzte Woche gewesen, als Victor überraschend bei ihm aufgetaucht war. Victor hatte endlich in dieser langjährigen Herzensangelegenheit eine greifbare Spur, sogar einen Namen in Erfahrung bringen können. Chefarzt, Prof. Dr. med. Günter Hartung, Arzt für Chirurgie, arbeitete seit fünf Jahren in einer Klinik außerhalb Berlins, wo sich Victor umgesehen hatte, insbesondere in Hartungs Büro. Dabei hatte er einen Stick mit vielen interessanten Daten mitgehen lassen. Wie wichtig dieser Datenträger für Hartung sein musste, zeigte sich an dem lästigen Schatten, der Victor beharrlich bis nach Potsdam folgte. Bei Sergiu hatte Victor gehofft, erst mal unterzutauchen. Was lag also näher, als Hartung diese Angelegenheit zuzuschieben? Er wollte seine Dateien zurück haben und sein Autounfall war eine Warnung. Einen Grund mehr, sämtliche Ordner auf dem Stick nach jedem nur möglichen Hinweis zu durchsuchen. Vielleicht hatte Sergiu diesen Unfall auch ungeplant überlebt und Hartung versuchte weiter, ihn aus dem Weg zu räumen. Jetzt musste er besonders vorsichtig sein. Sergiu spürte seinen erhöhten Herzschlag bei dem Gedanken, unter den Dateien etwas Wichtiges zu finden, was endlich Licht in die alte Sache bringen konnte.

Nach den längsten gefühlten fünfzehn Minuten der Menschheitsgeschichte rollte Maier triumphierend einen Rollstuhl ins Krankenzimmer. »Sieh im Schrank nach meiner Kleidung.«

Maier öffnete den Schrank und trat demonstrativ zur Seite. Nichts, er war leer. Sergiu konnte von Glück reden, dass er noch am Leben war. Er wollte bestimmt nicht darauf warten, dass der Typ mit der Spritze noch mal vorbei kam und ihm das Lebenslicht auspustete. Er sah sich gezwungen, im luftigen Krankenhaushemdchen zu flüchten.

»Du weißt schon, was du hier tust, ja?« Maier sah ihn prüfend an.

»Hast du einen besseren Vorschlag?« Maier rieb sich über den Oberlippenbart. »Du siehst nicht aus, als würdest du ohne ärztliche Hilfe auskommen.«

»Schieb mich auf den Flur.« Sergiu kämpfte mit Schwindel, Kopfschmerzen und der schlimmer werdenden Übelkeit, doch sein Überlebensdrang war stärker als alle Beschwerden zusammen. Auf dem Krankenhausflur roch es noch intensiver nach Desinfektionsmittel. Sein Magen wollte sich gerade umkrempeln. Sergiu schluckte, atmete dreimal tief durch, verhinderte damit die aufkommende Katastrophe. Sein schwacher Zustand konnte von Hartung auch gewollt sein. Wie ein Drogenabhängiger unter Medikamenten zu stehen, nahm ihm Kraft und Willen. Ausgeliefert, wie eine Laborratte war er hier.

Oh, nein! Nicht mit ihm. Sergiu rieb sich den Kopf. »Ist dein Auto hier?« Nichts wie weg hier, bevor ihm noch ein Arzt ein weiteres Narkotikum verpasste.

»Natürlich. Wir machen also ne Sause, Buci?« Maier packte die Griffe des Rollstuhls und schob ihn ein Stück den Flur entlang.

»Die machen wir, und zwar flugs.« Als sie das Gebäude verließen, schien Sergiu die warme Mittagssonne ins Gesicht. Ein wenig Erleichterung breitete sich in Sergiu aus.

Häh?

Wieso Mittagssonne? Wo war der Montagabend geblieben?

»Sag mal Maier, welcher Tag ist heute?«

»Dienstag.« Na großartig. Die Herren hatten also mehr als 20 Stunden Zeit, sich bei ihm in der Wohnung umzusehen.

Scheiße! Unter großem Kraftaufwand hievte er sich in Maiers Auto. Wenn doch nur diese Übelkeit mit dem Brummschädel nicht wäre, aber Hauptsache, er war aus dem Krankenhaus raus.

Maier setzte sich ins Auto. »Du bist ganz sicher, dass du jetzt ohne medizinische Hilfe zurechtkommst?«

Ja, vielleicht hatte er schon einen Verfolgungswahn. Trotzdem, zu Hause war er allemal besser aufgehoben. »Fahr einfach, Maier.«

»Ja, ja! Schon gut.« Der Detektiv startete endlich den Motor. Sergius Augen fühlten sich unendlich schwer an, deshalb schloss er sie und versuchte ein wenig zu schlafen, um etwas Kraft zu schöpfen. Doch in seinem Kopf arbeitete es unentwegt.

Seine Gedanken gingen zurück, wie er vor sieben Jahren mit der Suche begonnen hatte. Im Herbst 2004 bat ihn ein bedeutender Freund Ionut Mihai aus Rumänien, seinen vermissten Bruder Nicolae aufzuspüren. Nicolae war seit seiner Urlaubsfahrt mit dem Wohnmobil spurlos verschwunden. Die wenigen Hinweise reichten nicht aus, um einen vernünftigen Ansatz zu finden, mit dem man hätte arbeiten können. Das letzte Lebenszeichen bestand aus einem kurzen Anruf von Nicolae, er habe Potsdam fast erreicht. Erst zwei Jahre später, im Sommer 2006, tauchte das verschollene Wohnmobil in Polen auf. Spuren von Gewalteinwirkung im Inneren, Beulen oder Kratzer gaben keinen Aufschluss, was damals passiert sein könnte. Zu dieser Zeit war auch Victor nach Deutschland gekommen, um Sergiu bei den Nachforschungen zu unterstützen. Doch mit jeder Woche, mit jedem Monat, ja mit jedem weiteren Jahr, verblasste die Hoffnung auf eine Klärung des rätselhaften Verschwindens von Nicolae. Die Suche nach Hinweisen, wenn es überhaupt welche gab, schien in Sackgassen zu enden. Kürzlich hatte Sergiu einen zusätzlichen Detektiv hinzugezogen. Dieser hatte das verlassene Krankenhaus in Hohen Neuendorf, wo seinerzeit das Wohnmobil gesehen worden war, erneut unter die Lupe genommen. Wie damals Maier brachte der neue Detektiv anfangs nichts Unbekanntes in Erfahrung. Nach der Wende hatte man das Krankenhaus geschlossen. Ein kleines Team von Medizinern hatte sich vergeblich um den Erhalt der Anlage bemüht, doch bald wurden die Fenster im Erdgeschoss mit Blechplatten versiegelt, um die Gebäude zu sichern. Seither kümmerte sich lediglich ein Sicherheitsdienst um das abgelegene Gelände. Sergiu kannte die Geschichte um das Krankenhaus bereits.

Das Interessante jedoch war ein zugemauerter Eingang, der bis dahin unentdeckt blieb. Der Detektiv hatte die Mauer eingerissen und damit eine Treppe nach unten zum Keller entdeckt. In den Kellerräumen verbargen sich ein Büro, zwei Untersuchungsräume, zwei Operationssäle, fünf kleine Krankenzimmer, ein Raum mit leeren Regalen sowie ein Labor. Für ein Krankenhaus nichts Ungewöhnliches. Allerdings besaß keiner der Räume ein Fenster, eine Luke oder eine Öffnung nach draußen. Demzufolge kam die Idee nach einem möglichen Keller nicht auf. Welchen Sinn diese Kellerräume einmal erfüllten, konnte Sergiu nur vermuten. Vielleicht handelte es sich um eine Art Quarantänestation, andererseits wurden dort auch offensichtlich Operationen durchgeführt. Deshalb kam ihm die Überlegung, ob sich dahinter ein Organhandel versteckt haben könnte. So abartig, wie es ihm anfangs schien, doch er musste diese Alternative in Betracht ziehen, damit dann auch die Aussicht, dass Nicolae mit seiner Familie dort ihr Ende gefunden hatte. Eine ganz furchtbare Vorstellung. Allerdings wäre diese Überlegung eine Erklärung, warum es keine Leichenfunde gab. Seinem rumänischen Freund Ionut Mihai wollte er erst über diese Vermutung aufklären, wenn er genügend Beweise zusammenhatte. Sergiu war nur eines klar: Nach dieser langen Zeit konnte niemand der Betroffenen davon ausgehen, einen der Vermissten noch lebend zu finden.


Maier parkte den Wagen am Straßenrand und zog den Zündschlüssel heraus und drehte sich zur Seite, um seinem Beifahrer die Hand auf die Schulter zu legen. Sergiu kehrte mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück. Sein Blick fiel auf das kurze Krankenhaushemdchen. »Hast du vielleicht ne Decke, die du mir kurz leihen könntest?«

Maier schüttelte den Kopf, schaute sich aber trotzdem in seinem Auto um. »Wie wäre es, wenn ich dir aus deiner Wohnung etwas zum Anziehen besorge?«

Das war eine gute Idee. So unzureichend gekleidet fühlte sich erniedrigend an. »Mach das.«

Maier hielt seine Hand auf. »Dein Wohnungsschlüssel.«

Oh, scheiße! Sergiu trug kaum was am Leibe, geschweige denn Papiere oder einen Schlüssel. In dieser Situation konnte er nur noch auf Victor hoffen.

»Versuche zu klingeln.« Wenn nur nicht diese hämmernden Kopfschmerzen wären.

»Häh? Hast du es vielleicht vergessen? Du wohnst allein!«

»Maier! Tue es einfach, in Ordnung?« Die Übelkeit verstärkte sich. »Ach egal.« Eine vertraute Couch, auf der man sich ausstrecken konnte, danach sehnte er sich jetzt, und nicht mit Maier über bestehende Wohngemeinschaften zu diskutieren. Sergiu öffnete die Autotür. Seine Kopfschmerzen wurden zunehmend heftiger, aber auch seine Gliederschmerzen setzten ihm ordentlich zu. Seine Ungeduld nach Hause zu kommen, drängte die Tatsache seiner auffallenden Kleidung in den Hintergrund. Zum Glück war der Weg zur Haustür nicht weit. Nur sechs oder sieben Meter. Sein nackter Hintern, der aus dem Krankenhaushemdchen herausschaute, war so hässlich ja nun auch wieder nicht. Mehr als ein Hausbewohner würde ihm im Treppenhaus schon nicht begegnen.

»Warte! Ich helfe dir.« Maier eilte zur Stelle, legte Sergius Arm um seinen Nacken und brachte ihn ins Haus. Eine Treppe musste er sich hoch mühen, dann war er zu Hause. Maier erwies sich dabei als unentbehrlich. Der Schwindel nervte genug, aber seine fehlende Kraft machte Sergiu am meisten zu schaffen. Endlich gelangten sie an die Wohnungstür. Jetzt sollte er sich besser auf alles gefasst machen. Bestimmt hatten diese Halunken sämtliche Sachen nach dem Stick durchwühlt.

In Gedanken ging Sergiu diese Dateien durch, die er mit Victor angesehen hatte. Ihm fiel die Exceltabelle ein, in der sie eine Liste über Verbandsmaterial, Medikamente, Infusionsschläuche, Instrumente und Untersuchungsmaterial, wie Objektträger für Mikroskope gefunden hatten. Dazu Angaben von Preisen und Herstellern. Am Ende dieser Aufstellung tauchten Einrichtungsgegenstände auf, wie Betten, Operationstische, Röntgen- und Ultraschallgerät, Beatmungs- und Reanimationsausrüstung sowie verschiedene medizinische Bezeichnungen, mit denen die beiden Männer nichts anzufangen wussten. Dann kamen ihm die unterschiedlichsten Dateien mit Patientenakten, die Prof. Dr. med. Günter Hartung zusammengestellt hatte, in den Sinn. Dabei fiel auf, dass all diese Patienten einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erlitten hatten. Mitunter fanden sich auch junge Menschen unter den Kranken. Bei dem Jüngsten handelte es sich um einen Fünfundzwanzigjährigen, der nach seinem Schlaganfall halbseitig gelähmt war und nun seit mehr als fünf Jahren im Rollstuhl saß. Der Name des Patienten brachte Licht ins Dunkle, Guido Hartung.

Auch wenn Sergiu und Victor nicht sonderlich viel von Medizin verstanden, fanden sie es eigenartig, warum Hartung als Chirurg eine Patientensammlung von Schlaganfällen und Herzinfarkten angelegt hatte. Was sie noch nicht herausgefunden hatten, war, ob dieser Guido Hartung vielleicht ein Verwandter von Doktor Hartung war. Möglicherweise war Guido Hartungs Sohn und durch den Organhandel versuchte der Arzt nun, Geld für eine besondere Therapie aufzubringen. Jedenfalls fanden sich in den Krankenakten zwei unterzeichnende Ärzte wieder: Prof. Dr. Ivor Jurischenkow, Arzt für Neurologie und Dr. med. Michael Herzschlag, Internist. Weder tauchte Hartung als operierender Arzt noch als behandelnder Arzt auf. Diese Zusammenstellung ergab keinen Sinn. Das bewegendste Dokument auf dem Datenträger, besonders für Victor, trug die Bezeichnung ›D. V.‹, was so viel wie ›wissenschaftliche Definition Vampir‹ bedeutete.


Sergiu klopfte an die Tür. Ein zweites und ein drittes Mal. Erschöpft von dem kurzen Weg zu seiner Wohnungstür, sank er auf die Treppenstufe.

»Weißt du Buci, du wohnst allein, vielleicht hast du das ja wirklich vergessen.«

Warum hielt Maier nicht einfach seine Klappe?

»Fünf Häuser weiter wohnt meine Putzfrau, sie hat einen Schlüssel.« Zur Not konnte man auch auf der Treppe schlafen, das war allemal besser, als sich im Krankenhaus von abartigen Ärzten in Einzelteile zerlegen zu lassen.

»Ähm, Buci, ich ...« Maier legte seine Hand auf seine Schulter.

Sergiu schaute auf. Unbemerkt war die Wohnungstür aufgegangen.

»Zum Drac...! Das hatte ich befürchtet.« Victor packte Sergiu unter die Achseln, um ihm hoch zu helfen. Erst nach einem Augenblick fand Maier seine Fassung wieder und folgte Sergiu in die Wohnung. Sergius Knie zitterten, aber sein Hämmern im Kopf nervte sehr.

»Victor, ist alles in Ordnung?«, hörte er sich stammeln. Sein Mund fühlte sich furchtbar trocken an.

»Seltsam, dass ausgerechnet du mich das fragst.« Victor setzte Sergiu auf der Couch ab.